9. Februar 2013

Vorwürfe sind nichts für mich.

Die Busenfreundin macht mir (wieder einmal) Vorhaltungen. Anscheinend bin ich keine Freundin, auf die sie sich verlassen kann. Sie sagt, nein, das seien keine Vorwürfe, darüber wäre sie hinaus. Als sie ihr Burnout hatte vorletztes Jahr, wäre ich wohl mit anderen Dingen beschäftigt gewesen bzw. hätte beteuert, wie gut es mir gerade ginge. Sie lässt mich ihre Argumente nicht entkräftigen. Dass ihr Burnout zum großen Teil durch die Krankheit ihres Bruders ausgelöst wurde, wie sie jetzt behauptet, ist mir tatsächlich neu. Woran ich mich erinnere sind Tiraden über die furchtbare Arbeit am Bildschirm, über ihre allgemeine Überforderung inmitten der Kollegen. Tatsächlich wusste ich immer, dass nicht die Arbeit sie so gestresst hat, sondern ihr Privatleben. Die Fernbeziehung, die Überidentifikation mit dem Leben der anstrengenden Brüder, ihre vielen Patenkinder, ganz speziell die schwarzen Pflegekinder ihrer Freundin S.. Meine Vorschläge, sich unbedingt Ruhe und Zeit für sich zu gönnen, vielleicht den Fotokurs abzusagen und die Kurzreisen ebenfalls, tat sie damals ab. Die Mädchen würden ihr so viel Liebe geben, die brauchte sie einfach.

Sie verstrickt sich in Wiedersprüche. Ja, der Bruder war das ganze Jahr über stabil, jeden Monat eine Chemo und dann geht das. Aber jetzt müsse sie ihr Blut untersuchen lassen, dem Bruder ginge es schlechter. Sie freut sich, ihm etwas geben zu können. Ihr Herzblut, denke ich. Dass er ihr Vorwürfe gemacht hat, dass sie sich nicht um seinen Sohn, ihren Neffen, gekümmert hat, erwähne ich jetzt besser nicht. Sie mag ihn nicht so. Lieber ließ sie sich von den Patenkindern lieben, die im Übrigen jetzt in die Pubertät kommen und frech werden. Darauf hätte sie gar keinen Bock.

Und jetzt bleibt alles an mir hängen. Sie hätte sich auch von mir trennen können, aber hat sie nicht. Ich hätte einfach nicht zugehört, sondern behauptet, dass ich nicht glauben würde, dass der Bruder stürbe. Warum ich das meinte sagen zu müssen, weiß ich nicht mehr. Vielleicht habe ich einfach nicht genug in ihr Horn geblasen, sie nicht genügend bemitleidet. Vielleicht wollte ich ihr nur ein bisschen Gelassenheit mitgeben. Aus Gründen, die ich nicht nachvollziehen kann, glaubt sie, ich sei vom Schicksal begünstigt. Meine Mutter hätte mich ja geliebt, ich könne das alles gar nicht nachvollziehen. Na und? Verpflichtet mich das? Zu was genau?

Mitleid kann ich nicht. Als mein Vater gestorben war, hat mich auch niemand bemitleidet, wieso auch. Wer kann schon mitfühlen, wie ich mich gefühlt habe, die Traurigkeit, die Schuld, die Ambivalenz und der ganze Kram. Das ist ja alles noch nicht so lange her. Da nützt auch kein Händchenhalten, da wollte ich allein durch. Und mein eigenes Burnout, meine Hitzewellen, mein Rückzug aus der Firma, als ob das einfach gewesen wäre. Ich hab es nur nicht an die große Glocke gehängt. Wie kann ich da behauptet haben, dass es mir da gerade so gut ginge? Die Misserinnerung zeigt doch, dass sie keinen Blick für mich hatte.

Mitleid kann ich nicht. Ich bin überzeugt, dass ein jedes Schicksal das ist, welches jede/r zu tragen fähig ist. Und dass keines besser oder schlimmer ist als ein anderes.

Das 'Gelände' bietet halbwegs reuelose und teils einfallsreich bebilderte Texte, nach uraltem Rezept geschrieben, gesammelt, im Zeitstrahl gebannt und von aufständischen Dadaisten in letzter Sekunde gut geheißen.

Hier kommt ein Bild:

Schatten

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