Lange Zeit
Endlich. Gute 32 Jahre später. Ich erwarte C. am Gleis 9, erst gibt es aber eine kleine Irritation, weil der Zug von mir unbemerkt heute auf Gleis 8 einfährt – schon eingefahren ist. Schnell lauf ich rüber und da sehe ich sie schon und sie mich auch. Sie ist größer als ich sie in Erinnerung habe, und eine Art Stolz ergreift mich: Meine große braunäugige Freundin. Wir umarmen uns und teilen Komplimente, ihr Gesicht ist mir nicht mehr ganz so geläufig, aber dann machen Mund, Kinn und Kiefer ihre typisch verschmitzen Bewegungen und ich weiß wieder, was zwischen uns war und warum ich sie gern hatte. Sie zeigt sich verbindlich, ich bin ja eher scheu, weil ich mir seit der flatterhaften Beziehung mit dem Geräuschemann nicht mehr so sicher sein konnte, von der Welt geliebt zu werden.
C. und ich lieben uns trotzdem wie zwei beste Freundinnen es tun, unvoreingenommen, herzlich und treu, trotz der drei Dekaden ohne. Wir laufen zu Fuß heim zu mir, für den Notfall (Sprachlosigkeit) hatte ich eine Art Stadtführung geplant, hier die Leine, dort die Altstadt, hier mein Viertel, da der Markplatz mit dem Lieblingscafé, hier nun endlich mein Haus im Sonnenschein. Aber wir erzählen ununterbrochen, aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart, alles vermischt sich, ich glaube nicht, dass sie irgendwas von der Stadt und den Plätzen aufnimmt, an denen wir vorbei kommen.
In der Küche mach ich einen Tee und reiche selbst gebackene Plätzchen. Sie fläzt sich sofort auf der Bank herum, ich sitze im Korbsessel mit Fell. So bleibt das während der nächsten vier Stunden. Viel hatte ich vergessen, ihre Erinnerungen scheinen lebendiger, Namen fallen mir wieder ein, dazu Gesichter, Ereignisse, die Klassenfahrt nach London mit Herrn W., die ersten Erfahrungen mit Jungs in der CVJM-Gruppe des Kirchenstifts. Ach ja, du mit Fifi, genau, und ich mit Heini. Dort wurden oft die Partner getauscht, ohne Argwohn, einfach, weil wir jung und noch ohne Zukunft waren. Trotzdem schlich schon das erste Herzeleid uns an, damals wurden Strukturen gelegt, die immer wieder kehrten, oder waren es einfach Strukturen der Persönlichkeit, die ausgelebt werden mussten. Ein Zwang, das ganze Leben.
Vieles in ihrem hatte ich damals nicht begriffen, die Mutter starb, als C. zwölf war und fortan führte sie, als jüngste der vier Geschwister für Vater und Bruder den Haushalt, die älteren waren schon aus dem Haus. Ich erinnerte mich an geschwänzte Vormittage in ihrer Küche, gegen Mittag begann sie sich verantwortlich zu fühlen und fing an zu kochen oder mal eben durch den Flur zu saugen, das alles nahm ich ohne viel Mitgefühl auf, und erst jetzt geht es mir nah, dass es da keine Mama gab. C. berichtet, ohne ins Selbstmitleid zu sacken, sicherlich war es ihr damals schon fremd, am Schicksal zu leiden. Überhaupt ist es sehr erfrischend, dass unser Zusammensein so ohne Pathos auskommt.
Die Frage, warum wir uns aus den Augen verloren haben, ist einfach. Ich lernte K. kennen und sie den, ich weiß nicht, J. oder P. oder so. Die hatten alle ihre Spitznamen. Wir können uns an die Partner der anderen nicht erinnern, die so plötzlich in unseren Leben wichtiger waren als die Freundin. Ich nehme an, wir fanden nichts dabei fortzugehen. Es kriecht ein verspätetes Bedauern in mein Herz, das sie mit einem aber jetzt haben wir uns doch wieder beiseite schiebt.
Weißt du noch, weißt du noch. R., den du so mochtest und der dich nicht wollte, der führt jetzt mit seinem Partner ein Hotel am Glacis. Achso, der war schwul! Das ist eine lustige und irgendwie auch befreiende Information. Allerdings hätte ich einst damit nicht viel anfangen können, ich befand mich ja selbst zwischen Baum und Borke und fühlte mich nicht sonderlich aufgeweckt, was sexuelle Präferenzen betraf. Man hätte einfach mal knutschen können, um mehr ging es mir während dieser Verliebtheit kaum.
Auch unsere politische Bildung hatte Lücken. In der Kleinstadt waren wir die ersten mit Palästinensertüchern, welche wir auch im Schuluterricht nicht ablegten. Kritischen Kommentaren konnten wir nichts entgegnen, wir waren irgendwie Hippies, aber ohne den historischen Ballast. Im CVJM lernten wir, die Welt auf philosphische Art zu betrachten, die Bergpredigt, Gleichungen aus dem Neuen Testamment, Jesus-People wurden wir für eine Weile, ich hatte einen entsprechenden Spruch auf meine Jeansjacke gestickt, typografisch hübsch anzusehen, grammatikalisch aber leider falsch. 'Jesus lebt' in d-englisch.
Die Klassenfahrt nach London. Die Müllabfuhr streikte gerade und die Stadt sah echt scheiße aus. Wir waren entsetzt und versteckten uns motzend unter unseren Palästinensertüchern. Ausflug nach Oxford. Ich besitze eigenhändig entwickelte, mittlerweile vergilbte Photoabzüge, wie wir mit einer Kiste (endlich mal) gesunder Lebensmittel auf einer Bank im Park sitzen. C. erinnert sich, dass wir uns weigerten, den Tower zu besichtigen, Herr W., für den wir schwärtmen, gab uns sogar das Eintrittsgeld aus, damit wir mitkämen.
Mein lebendigstes Bild ist, als wir in den aufgeschütteten Schneebergen vor Herrn W.s Haus rumkletterten und -kicherten bis er uns aus dem Küchenfenster entdeckte und zum Tee in die Wohnung lud. Im Treppenhaus vor der Tür stand ein Kinderwagen, und ach, er hatte auch eine Frau, die wiederum uns ebenso neugierig begrüßte. In dem Winter begann die große Freundschaft mit dem Lehrerehepaar, bei dem ich in den nächsten Jahren Kind im Hause war, aber das ist eine andere Geschichte und führt uns in die Philosophie bzw. Esoterik.
Es scheint so, dass dies der Zeitpunkt war, wo wir auseinander gingen. Jede in ihre Richtung. C. ist immer noch mit J. oder P. oder so verheiratet, sie haben einen Sohn, ein Haus mit Garten und ich sehe mit Freude und auch etwas Neid, dass sie sich Stärke und Unabhängigkeit bewahrt hat. Man kann unsere Leben nicht vergleichen, aber ich hoffe, dass sie an diesem Punkt der Zeit beginnen, wieder zusammenzufließen.
C. und ich lieben uns trotzdem wie zwei beste Freundinnen es tun, unvoreingenommen, herzlich und treu, trotz der drei Dekaden ohne. Wir laufen zu Fuß heim zu mir, für den Notfall (Sprachlosigkeit) hatte ich eine Art Stadtführung geplant, hier die Leine, dort die Altstadt, hier mein Viertel, da der Markplatz mit dem Lieblingscafé, hier nun endlich mein Haus im Sonnenschein. Aber wir erzählen ununterbrochen, aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart, alles vermischt sich, ich glaube nicht, dass sie irgendwas von der Stadt und den Plätzen aufnimmt, an denen wir vorbei kommen.
In der Küche mach ich einen Tee und reiche selbst gebackene Plätzchen. Sie fläzt sich sofort auf der Bank herum, ich sitze im Korbsessel mit Fell. So bleibt das während der nächsten vier Stunden. Viel hatte ich vergessen, ihre Erinnerungen scheinen lebendiger, Namen fallen mir wieder ein, dazu Gesichter, Ereignisse, die Klassenfahrt nach London mit Herrn W., die ersten Erfahrungen mit Jungs in der CVJM-Gruppe des Kirchenstifts. Ach ja, du mit Fifi, genau, und ich mit Heini. Dort wurden oft die Partner getauscht, ohne Argwohn, einfach, weil wir jung und noch ohne Zukunft waren. Trotzdem schlich schon das erste Herzeleid uns an, damals wurden Strukturen gelegt, die immer wieder kehrten, oder waren es einfach Strukturen der Persönlichkeit, die ausgelebt werden mussten. Ein Zwang, das ganze Leben.
Vieles in ihrem hatte ich damals nicht begriffen, die Mutter starb, als C. zwölf war und fortan führte sie, als jüngste der vier Geschwister für Vater und Bruder den Haushalt, die älteren waren schon aus dem Haus. Ich erinnerte mich an geschwänzte Vormittage in ihrer Küche, gegen Mittag begann sie sich verantwortlich zu fühlen und fing an zu kochen oder mal eben durch den Flur zu saugen, das alles nahm ich ohne viel Mitgefühl auf, und erst jetzt geht es mir nah, dass es da keine Mama gab. C. berichtet, ohne ins Selbstmitleid zu sacken, sicherlich war es ihr damals schon fremd, am Schicksal zu leiden. Überhaupt ist es sehr erfrischend, dass unser Zusammensein so ohne Pathos auskommt.
Die Frage, warum wir uns aus den Augen verloren haben, ist einfach. Ich lernte K. kennen und sie den, ich weiß nicht, J. oder P. oder so. Die hatten alle ihre Spitznamen. Wir können uns an die Partner der anderen nicht erinnern, die so plötzlich in unseren Leben wichtiger waren als die Freundin. Ich nehme an, wir fanden nichts dabei fortzugehen. Es kriecht ein verspätetes Bedauern in mein Herz, das sie mit einem aber jetzt haben wir uns doch wieder beiseite schiebt.
Weißt du noch, weißt du noch. R., den du so mochtest und der dich nicht wollte, der führt jetzt mit seinem Partner ein Hotel am Glacis. Achso, der war schwul! Das ist eine lustige und irgendwie auch befreiende Information. Allerdings hätte ich einst damit nicht viel anfangen können, ich befand mich ja selbst zwischen Baum und Borke und fühlte mich nicht sonderlich aufgeweckt, was sexuelle Präferenzen betraf. Man hätte einfach mal knutschen können, um mehr ging es mir während dieser Verliebtheit kaum.
Auch unsere politische Bildung hatte Lücken. In der Kleinstadt waren wir die ersten mit Palästinensertüchern, welche wir auch im Schuluterricht nicht ablegten. Kritischen Kommentaren konnten wir nichts entgegnen, wir waren irgendwie Hippies, aber ohne den historischen Ballast. Im CVJM lernten wir, die Welt auf philosphische Art zu betrachten, die Bergpredigt, Gleichungen aus dem Neuen Testamment, Jesus-People wurden wir für eine Weile, ich hatte einen entsprechenden Spruch auf meine Jeansjacke gestickt, typografisch hübsch anzusehen, grammatikalisch aber leider falsch. 'Jesus lebt' in d-englisch.
Die Klassenfahrt nach London. Die Müllabfuhr streikte gerade und die Stadt sah echt scheiße aus. Wir waren entsetzt und versteckten uns motzend unter unseren Palästinensertüchern. Ausflug nach Oxford. Ich besitze eigenhändig entwickelte, mittlerweile vergilbte Photoabzüge, wie wir mit einer Kiste (endlich mal) gesunder Lebensmittel auf einer Bank im Park sitzen. C. erinnert sich, dass wir uns weigerten, den Tower zu besichtigen, Herr W., für den wir schwärtmen, gab uns sogar das Eintrittsgeld aus, damit wir mitkämen.
Mein lebendigstes Bild ist, als wir in den aufgeschütteten Schneebergen vor Herrn W.s Haus rumkletterten und -kicherten bis er uns aus dem Küchenfenster entdeckte und zum Tee in die Wohnung lud. Im Treppenhaus vor der Tür stand ein Kinderwagen, und ach, er hatte auch eine Frau, die wiederum uns ebenso neugierig begrüßte. In dem Winter begann die große Freundschaft mit dem Lehrerehepaar, bei dem ich in den nächsten Jahren Kind im Hause war, aber das ist eine andere Geschichte und führt uns in die Philosophie bzw. Esoterik.
Es scheint so, dass dies der Zeitpunkt war, wo wir auseinander gingen. Jede in ihre Richtung. C. ist immer noch mit J. oder P. oder so verheiratet, sie haben einen Sohn, ein Haus mit Garten und ich sehe mit Freude und auch etwas Neid, dass sie sich Stärke und Unabhängigkeit bewahrt hat. Man kann unsere Leben nicht vergleichen, aber ich hoffe, dass sie an diesem Punkt der Zeit beginnen, wieder zusammenzufließen.
keinekrabbe - 27. Januar, 15:16
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