Die lange Weile
Ich frage mich, ob ich mich fragen sollte, ob ich nicht ein langweiliges Leben führe. Weil ich mich nicht mehr so oft aufrege. Über gesellschaftliche Ereignisse, über Politik und Religion, ja, sogar über Kunst können sich Menschen ereifern. Aufregung schenkt ein Gefühl von Wichtigkeit. Aufgeregte Menschen bekommen Aufmerksamkeit, man kann ihnen gar nicht entkommen, wenn sie ihre beliebigen Kommentare lauthals ins Café spucken. Ich rege mich höchstens noch darüber auf, dass sie sich aufregen.
Die Busenfreundin, nennen wir sie jetzt mal J., ergibt sich seit Jahren einer Daueraufregung über ihre psychischenMacken Altlasten, die sie in Therapien versucht zu bezwingen bewältigen. Meine Güte, was haben wir uns darüber oft gezankt, einmal musste ich regelrecht aus der Wohngemeinschaft flüchten, um unserem Gebrülle zu entgehen, und ins Treppenhaus hinein schrie sie 'blöde V***e' mir nach. Das ist heute nach 15 Jahren lustig, man, damals hatte ich Herzrasen.
Zur Zeit ist es die Bruderbeziehung, die sie bekümmert. Es sei damals irgendetwas 'Schlimmes' vorgefallen, wie sie mir, diesmal flüsternd, versichert. Ich daraufhin sehe bloß zum Fenster hinaus und frage mich insgeheim, was gibt es eigentlich noch 'Schlimmes' in den Erste-Welt-Leben, die wir führen? Wir sind gesund, noch halbwegs jung, gelinde wohlhabend, mit genügend fruchtbaren Projekten und Freundschaften gesegnet und ausreichend Sex. Die Vergangenheit ist, nun… vergangen. Seit langem. Also, was kann 'das Schlimme' sein? Sie wispert nur noch, 'Missbrauch, Inzest'. Natürlich mit einem Fragezeichen in der Stimme, wer weiß das schon. Ich seh wieder aus dem Fenster und denke 'na und'. Das sag ich aber nicht.
Vielleicht wird man zynisch, wenn manzu lange jahrelang meditiert. Vielleicht ist es auch eine altersbedingte Gelassenheit, die das Schlimme in der Welt anders beleuchten und (endlich) begreifen kann. In dem Jetzt, in diesem Moment, gibt es für uns beide nichts Schlimmes. Die unsichtbaren Listen im Sinn mit all dem Bösen, das jetzt in diesem Moment in der Welt passiert – hier passiert es gerade nicht! Hier passiert gerade überhaupt nichts außer Sonnenschein und Wolkenziehen. Und das ist so grandios, dass es mich fast umhaut vor Glück.
Das möchte ich der J. gerne sagen. Sieh hin! Aber sie sagt nur 'ja, aber…', und das neuerdings dauernd. Die Möglichkeit inneren Friedens scheint sie sehr aufzuregen. Das regt mich dann wieder auf und ich lasse sie weiter monologisieren über ihre verkorkste Kindheit, den aggressiven Vater, die egozentrische Mutter und jetzt auch noch den schlimmen Bruder. Und dass man die Vergangenheit bearbeiten muss, glaubt sie, man muss nochmal hineingehen in den Scheiß, um endlich davon frei zu sein.
Sie begreift nicht, dass dieses 'frei sein' ein 'frei werden' ist, das in unbestimmter Zukunft liegt. Noch ein bisschen Psychoarbeit, noch mehr Aufräumen, und nochmal vergangenes Unheil wiederbeleben, mit einem Herz rauh von Trauer und Abscheu. Nimmt das jemals ein Ende?
Die Busenfreundin, nennen wir sie jetzt mal J., ergibt sich seit Jahren einer Daueraufregung über ihre psychischen
Zur Zeit ist es die Bruderbeziehung, die sie bekümmert. Es sei damals irgendetwas 'Schlimmes' vorgefallen, wie sie mir, diesmal flüsternd, versichert. Ich daraufhin sehe bloß zum Fenster hinaus und frage mich insgeheim, was gibt es eigentlich noch 'Schlimmes' in den Erste-Welt-Leben, die wir führen? Wir sind gesund, noch halbwegs jung, gelinde wohlhabend, mit genügend fruchtbaren Projekten und Freundschaften gesegnet und ausreichend Sex. Die Vergangenheit ist, nun… vergangen. Seit langem. Also, was kann 'das Schlimme' sein? Sie wispert nur noch, 'Missbrauch, Inzest'. Natürlich mit einem Fragezeichen in der Stimme, wer weiß das schon. Ich seh wieder aus dem Fenster und denke 'na und'. Das sag ich aber nicht.
Vielleicht wird man zynisch, wenn man
Das möchte ich der J. gerne sagen. Sieh hin! Aber sie sagt nur 'ja, aber…', und das neuerdings dauernd. Die Möglichkeit inneren Friedens scheint sie sehr aufzuregen. Das regt mich dann wieder auf und ich lasse sie weiter monologisieren über ihre verkorkste Kindheit, den aggressiven Vater, die egozentrische Mutter und jetzt auch noch den schlimmen Bruder. Und dass man die Vergangenheit bearbeiten muss, glaubt sie, man muss nochmal hineingehen in den Scheiß, um endlich davon frei zu sein.
Sie begreift nicht, dass dieses 'frei sein' ein 'frei werden' ist, das in unbestimmter Zukunft liegt. Noch ein bisschen Psychoarbeit, noch mehr Aufräumen, und nochmal vergangenes Unheil wiederbeleben, mit einem Herz rauh von Trauer und Abscheu. Nimmt das jemals ein Ende?
keinekrabbe - 6. November, 12:38
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