Lügen haben knackige Ärsche

Mit der Busenfreundin bin ich zweimal zum Familienstellen gegangen. Familienaufstellungen sind ja diese seltsamen Events, wo wildfremde Leute plötzlich die Rollen von Familienangehörigen übernehmen und Wahrheit sprechen bzw. Lügen entlarven und generationenalte Geheimnisse aufdecken. Ich nahm als Stellvertreterin teil. Das ganze ist ungefähr drei Jahre her und ich kann mich nicht mehr so genau erinnern, aber eine meiner Rollen wurde mir wieder sehr präsent, als ich im letzten Text über das Lügen bzw. das Belogenwerden schrieb.

Wer welche Rolle in dieser Aufstellung innehatte, weiß ich nicht mehr genau, ich war jedenfalls eines von mehreren Geschwistern. Langsam fanden wir in unsere Rollen, da gab es Sympathien, Gleichgültigkeiten und spontane Ablehnungen – es ist wirklich ein Wunder, wie jenes sich Auftun von Gefühlsbeziehungen funktioniert. Dieses Szenario jedenfalls war langwierig und schwierig. Wir wechselten oft die Positionen und es kam mehrmals zum Stocken des Prozesses. Irgendwann aber hatten wir es.

Es ist nicht einfach zu beschreiben. Eine Weile fanden da Behauptungen statt von Personen, die sich eher peripher verhielten und vertrauenswürdig erschienen, der Vater, die Mutter, alles liebe Leute. Gut, von diesen ging also das Böse, dem wir auf der Spur waren, nicht aus, dann unterhalten wir uns mal mit jenen. Ich hatte mich neben eine Person gestellt, die mir sehr viel bedeutete, wir flogen nur so aufeinander zu, während des ersten Beieinanderstehens, eine große geschwisterliche Liebe band uns geheimnnisvoll. Noch war nicht klar, woraus dieses Band bestehen könnte.

Ich befand mich etwas schräg hinter meinem Geschwister, wir hielten uns an den Händen, und fast alle anderen Personen uns gegenüber, etwa fünf, wie eine Mauer. Während die Leiterin mit einer dieser anfangs unauffälligen Person zu sprechen, sie auszufragen begann, wurde mir zunehmend mulmiger. Irgendwas war mit diesem Mann, ich hatte im Laufe der langen Szenen vergessen, als wer er aufgestellt war. Beide redeten weiter und ich bekam Angst – eine echte körperliche Angst, die vom Sonnengeflecht ausstrahlte, äußerst unangenehm. Ich stellte mich hinter mein Geschwister, als könne es mich verbergen. Während die Leiterin die Person weiter befragte, stieg meine Angst immer mehr, sodass ich versuchte, mich komplett zu verstecken, indem ich mich duckte und mein Gesicht zwischen den Schulterblättern meines Geschwisters verbarg. Dann kulminierte das Geschehen, es ging ein Raunen durch die Gruppe wie eine erste Ahnung, was das Schreckliche sein könnte und gleichzeitig fing ich fürchterlich an zu weinen, meine Tränen durchnässten den Rücken meiner Schwester, hinter der ich nun vollends versank und mit ein paar weiteren Fragen und Antworten der Leiterin wurde das schreckliche Geheimnis, das mich mit diesen Personen verband, aufgedeckt. Es kam endlich alles raus. Ich weinte weiter, sollte dann hervorkommen und mich der Person gegenüberstellen, aber ich konnte nicht, ich schrie regelrecht vor Angst und man hatte seine Mühe mich zu beruhigen. Ich ging dann Schrift für Schritt, und das dauerte.

Zwischen diesen Personen ging es um sexuellen Missbrauch, es war der Vater, dem ich zu Diensten war, damit er meine kleine Schwester verschonen möge. Unsere Mutter hatte von all dem gewusst und uns aber nicht beschützt, warum, weiß ich nicht mehr. Sie war genauso Täterin.

Das war alles sehr echt. Die Gefühle waren echt, die Angst war dramatisch, die Liebe zu meiner Schwester so deutlich und rein – habe ich im echten Leben jemals so geliebt? Die dauernde Demütigung, das Verstecken, das Belogensein, die Missachtung – hier in der Erzählung sind es nur Worte, worunter jeder Eigenes versteht, aber dort war alles so brutal fassbar, dass ich glaubte, mich nie wieder davon erholen zu können.

Im weiteren Verlauf wurde die Szene behutsam aufgelöst, wir stellten uns den missbrauchenden Eltern, dröselten die Gründe auf und das Schicksal, das hinter unserer Geschichte stand, und lernten langsam zu verzeihen.

Als die Buddhistin sagte, wir suchen immer das, was wir schon kennen, habe ich mich an den grausamen Gefühlstaumel während der Aufstellung erinnert und wie die Erwachsenen dicht hielten gegen uns Kinder. Deshalb erzähl ich's. Eine Wiederholung von und die Sucht nach Situationen, die starke Gefühle auslösen, ohne zu verstehen, dass sie nicht gut tun, nicht kleinen Mädchen und Jungs und auch nicht Menschen, die sich erwachsen glauben. Lieb sein, um sich vor der Missachtung der Erwachsenen zu schützen und sich damit selbst belügen. Wie soll ein Kind die Welt auch klar sehen, wenn es in Strukturen aufwächst, die Liebes vernebeln und verneinen und seinen natürlichen Gerechtigkeitssinn für lange Zeit zerstören.

Nur langsam kommt die Wahrheit wieder zurück. Mir kommt es so vor, als sei ich als Kind näher dran gewesen. Ich habe innerlich eine Liste angelegt mit Lügnern und Leuten, die immer die Wahrheit sagen. Gestern gab es passend einen Themenabend, ich habe aber nicht alles gesehen, und fand es billig zu erörtern, ob ein vorgespielter Orgasmus eine Lüge ist. Hier geht es um ganz andere Lügen. Die, welche sich durch Generationen ziehen oder die von einflussreichen Teilnehmern der Gesellschaft verbreitet werden. Lügen, die ganze Völker unterdrücken, die krank und verzweifelt machen und Menschen am glücklichsein hindern.

Meine Liste beschränkt sich auf Familie, Freunde und Bekannte. Es ist deutlich geworden, dass ich mit denen die lügen oft streite, die Häufigkeit und Intensität des Streits scheint mir wie ein Größenmaß für Lüge zu sein. Sofort setzt Widerstand ein, der zu Streit führt, ohne dass ich fähig wäre, die Lüge direkt aufzuspüren. Lüge ist glatt, schlüpft überall durch und hinein, ich möchte mich bemühen, auf mein Herz zu hören, das ist ja da, mit seinen Stichen und seinem Brennen.
books and more - 10. März, 17:36

Das ist sehr berührend.

(Ja, eine ganz erstaunliche Sache, diese Aufstellungsarbeit.)

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Das 'Gelände' bietet halbwegs reuelose und teils einfallsreich bebilderte Texte, nach uraltem Rezept geschrieben, gesammelt, im Zeitstrahl gebannt und von aufständischen Dadaisten in letzter Sekunde gut geheißen.

Hier kommt ein Bild:

Mon-Cheri-A-self-portrait-as-a-scrapped-shed

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